In Reinach AG hängt seit letztem Jahr die Photovoltaik über der Kläranlage an Seilen. Die Sonnenstrahlen werden so in Strom umgewandelt, anstatt das Algenwachstum zu beflügeln. In der Nacht faltet sich die Anlage zusammen.

Kommt die Sturmwarnung von MeteoSchweiz, starten die 36 Motoren automatisch und holen die 1440 PV-Module in etwas mehr als 60 Sekunden zurück in die Garage. In diesem Frühling nahm die EWS Energie AG bei der Kläranlage in Reinach das erste Solarfaltdach des Kantons Aargau in Betrieb. Pro Jahr werden über den Klärbecken mit den 4400 Quadratmetern Modulfläche rund 450’000 kWh Strom erzeugt. Es ist bisher allerdings kein gutes Jahr für die Solarstromproduktion. «Im regenreichen Juli lag der Ertrag deutlich unter dem Durchschnitt», sagt Sebastian Haller. Er ist bei der EWS Energie AG Teamleiter Services Energieversorgung und betreut innovative Projekte des Energieversorgers.

An diesem Tag im August scheint aber wieder einmal die Sonne und sogar die Temperaturen sind sommerlich. Unter dem Solardach ist es angenehm kühl. Mitarbeiter nutzen den Schatten ebenfalls und parken ihre Autos darunter, wo es gerade Platz hat. Der Kühlungseffekt sorgt bei Betreibern von Kläranlagen allerdings instinktiv eher für Stirnrunzeln, weil die Klärprozesse eigentlich warme Temperaturen im Wasser angewiesen sind. Doch Werksleiter Reto Pfendsack gibt hier sofort Entwarnung: «Bis jetzt konnten wir diesbezüglich keine negativen Effekte feststellen.» Für ihn überwiegt vielmehr das Positive: «Der Schatten hemmt das Algenwachstum in den Klärbecken.» Und natürlich sei das Arbeiten unter dem «Sonnenschutz» im Sommer deutlich angenehmer. Wenn die Sonne am Abend untergeht, werden die Module eingefahren, und sind vor jeglichen äusseren Einflüssen geschützt.

Solardach auf Seilen

«Erfinderin» und Herstellerin des Solarfaltdachs ist die dhp technology AG in Zizers. Die Idee: Bereits bestehende Infrastrukturflächen wie Kläranlagen oder Parkplätze sollen mit der zusätzlichen Solarstromproduktion doppelt genutzt werden. Möglich macht das ein spezielles Leichtbausystem, bei dem die PV-Module aus spiegelfreiem Kunststoff auf einer auf Seilbahntechnologie basierenden Tragkonstruktion aufgefaltet in zehn Prozent Neigung hängen. Wegen den tieferen Gewichten ist ein Abstand von 25 Metern zwischen den verzinkten Stützen möglich, bei einer Höhe von bis zu sechs Metern. Aber weshalb lässt man die Solarmodule nicht einfach fix an den Seilen hängen? Der Hauptgrund für die faltbare Lösung liege im Leichtbau, erklärt Gian Andri Diem von dhp technology. «Dieser ist nur bedingt wetterfest.» Den Kräften von Hagel, Sturm oder Schnee weicht das System aus. Für die Kläranlagen ist das aber gerade der Vorteil, weil der Zugang zu den Klärbecken jederzeit möglich sein muss. Beispielsweise für die Reinigung, bei der schweres Gerät nötig ist. Wenn die Module in den Garagen eingezogen sind, steht zwischen den Seilen 4 Meter und in der Länge bis zu 27 Meter Raum dafür zur Verfügung.

In der Nacht und bei Unwettern faltet sich das Dach automatisch zusammen.

Eigenverbrauch entscheidend

Die Kläranlage in Reinach zählt zu den teureren von bisher zehn realisierten Faltdach-Projekten in der Schweiz. Ein Hauptgrund dafür liegt im schwierigen Untergrund mit hohem Grundwasserstand. «Weil dieser sehr weich ist, mussten für die Stützen 26 Pfähle bis zu 30 Meter tief in den Boden gerammt werden», erklärt Sebastian Haller. Dadurch entstanden Mehrkosten von 300’000 Franken, was rund einem Fünftel der Gesamtinvestition entspricht. Trotzdem rechnet Sebastian Haller über die nächsten Jahre mit einem «Nullsummenspiel». In anderen Worten: Der über der Kläranlage produzierte Solarstrom kostet nicht mehr als der sonst eingekaufte «normale» Strom. Wesentlicher Bestandteil der Wirtschaftlichkeitsrechnung ist der Eigenverbrauchsanteil. Kläranlagen sind gute Standorte für die Solarfaltdächer, weil sie im Betrieb viel Strom gleich vor Ort verbrauchen können und so den sonst teurer eingekauften Strom ersetzen. Bei der EWS Energie AG rechnet man mit einem Eigenverbrauchsanteil von 50 Prozent. Zur Optimierung wurden stromzehrende Prozesse von der Nacht auf den Tag verschoben, beispielsweise die Spülung der Filteranlagen. Damit steige der Anteil um weitere ein bis zwei Prozent, erklärt er.

Leuchtturmprojekt für die Region

Der Anstoss zum Bau des Solarfaltdachs in Reinach gab EWS-Geschäftsführer Christian Gerber. Unter seiner Führung hat sich der regionale Energieversorger in den letzten Jahren zu einem innovativen Unternehmen entwickelt, welches in verschiedene Solarstrom-Technologien investiert. Dabei ist man auch offen für Experimente: Beispielweise mit dem Pilotprojekt mit einer Tesla-Batterie mit einer Ladekapazität von rund 200 kWh als Zwischenspeicher für Solarstrom. Der Energieversorger ermögliche ihrer Kundschaft, für einen Aufpreis von 2.5 Rappen pro Kilowattstunde ökologischen Strom aus der Region zu kaufen und so einen aktuellen Beitrag zu mehr Klimaschutz zu leisten, erklärt Sebastian Haller. Mit dem Solarfaltdach ergab sich eine zusätzliche Gelegenheit für eine namhafte Erhöhung des Angebots vor allem aber für ein wirkliches Leuchtturmprojekt in der Region. Zusammen mit Geschäftsführer Christian Gerber sowie Vertretern des Abwasserverbands Oberwynental (AOW) schaute er sich die Pilotanlage in der Kläranlage in Chur zuerst vor Ort an. Das machte offenbar Eindruck. Die AOW als Betreiberin der Kläranlage sprach sich schliesslich für den Bau der Anlage aus, und der EWS-Verwaltungsrat gab grünes Licht für die Investition. Die EWS Energie AG ist Eigentümerin der Anlage. Die Bauzeit betrug rund zehn Monate.

Stabiler Strompreis

Die dhp technology AG als Hersteller wirkt mittlerweile als Generalunternehmen, das mit eigenen Ingenieuren vor allem die Planung übernimmt. Falls nötig würden externe Experten zugezogen, erklärt Gian Andri Diem. Für die Arbeiten vor Ort werden jeweils lokale Firmen berücksichtigt. Eine Cash-Cow ist das Solarfaltdach nicht. Obwohl die Gestehungskosten pro Kilowattstunde Strom etwas höher sind als bei «normalen» Solaranlagen, sei ein wirtschaftlicher Betrieb aber möglich. Der Solarstrom koste normalerweise nicht mehr als der eingekaufte Strom, erklärt Diem. Das sei auch abhängig vom Eigenverbrauchsanteil. Er ist aber überzeugt, dass für den Betreiber in der Region vor allem ein Mehrwert entstehe aus dem Imagegewinn, nicht zuletzt auch, weil das örtliche Gewerbe vom Bau profitiert habe und ins Projekt involviert war. Zudem bestehe Planungssicherheit, weil der Gestehungspreis über die Jahre konstant bleibt und nicht vom Markt abhängig ist. Dort rechnet Diem in den nächsten Jahren mit steigenden Strompreisen. «Damit erhöht sich dann auch die Wirtschaftlichkeit unserer Anlagen».

Viele Anlagen in Planung

Bis jetzt sind zehn Solarfaltdach-Anlagen in Betrieb, davon neun bei Kläranlagen. Die grösste Anlage mit einer installierten Leistung von 817 kWp steht über der ARA in Bilten. Drei weitere Projekte sind in der Ausführung, 30 in der Pipeline. Neben den Kläranlagen konzentriere sich das Unternehmen auf Parkplätze und Logistikareale, erklärt Gian Andri Diem. Bisher wurde allerdings erst ein Projekt ausserhalb der ARA-Branche verwirklicht: Bei der Luftseilbahn Jakobsbad-Kronberg im Appenzellerland überdecken 4000 Quadratmeter Solarfaltdach-Fläche den Parkplatz. Darunter bleiben die Fahrzeuge im Sommer kühl. Weil im Winter bei Schneefall die Module geschützt in der Garage zusammengefaltet sind, entsteht später auf der ausgefahrenen, schneefreien Anlage wertvoller Winterstrom. Anfragen für Projekte gebe es viele, sagt Diem. Beispielsweise für Überdachungen von bestehenden Gebäuden. Ein Problem sei hier aber die enorme Spannkraft der Seile, welche direkt auf das Gebäude übergingen. Zudem gebe es Interessenten aus dem Bereich der Agriphotovoltaik, beispielsweise von Weinbauern, die ihre Trauben vor Sonnenbrand schützen wollen. Die Kläranlagen bleiben aber vorerst die Hauptzielgruppe des Unternehmens. Dieses hat inzwischen den Schritt ins Ausland geschafft: in Deutschland soll bald die erste Kläranlage ein Solarfaltdach erhalten.

PV für tiefe Dachlasten
Die von dhp technology AG auf ihren Faltdächern eingesetzten Photovoltaik-Module sind etwa viermal leichter als herkömmliche Module. Die Firma bezieht sie von ausländischen Herstellern, die sich auf den Bau von leichten Modulen für tiefe Dachlasten spezialisiert haben. Anstatt zwischen Glasscheiben, liegen die Zellen auf einer Glasfasermatte und werden mit einer spiegelfreien Folie überzogen. Die Mitarbeitenden von dhp technology AG kleben die Kunststoff-Module in das Faltdach ein.  Leistungsmässig seien sie in etwa identisch mit den Glasmodulen, sagt Gian Andri Diem. Er sieht in den leichten Modulen grundsätzlich viel Potenzial für die Zukunft, weil es sie die Produktion von Solarstrom an Orten möglich mache, wo dies bisher aus statischen Gründen nicht möglich war.

www.dhp-technology.ch

Eckdaten Solarfaltdach in Reinach
Herstellerdhp technology AG
Betreiber und EigentümerEWS Energie AG
Gesamtleistung518.4 kWp
Jahresertrag ca.450’000 kWh
Max. Abgabe ins Netz440 kVA
Leistung pro Panel360 Wp
Fläche4400 m2
Konstruktion3 Achsen à 12 Bahnen
Spannkraft Tragseile120 Tonne pro Achse
Start Projektierung bis Ende BauzeitJanuar 2020 bis Mai 2021

Der Artikel ist der Fachzeitschrift HK-Gebäudetechnik erschienen.

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